Freitag, 27. Juli 2012
Eröffnung der Spiele und Stephen Daldry. Zur Rolle von Kunst und Politik
Billy Elliots “Vater” inszeniert die Eröffnung der Olympischen Spiele

Am 27. Juli um 21.00 Uhr beginnt die Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele. 27 Millionen Pfund soll sie kosten und verantwortlich zeichnen die Filmregsiseure Danny Bolye (Oscar-gewinner mit ”Slumdog Millionaire”) und Stephen Daldry (”Billy Elliot”, ”The hours”). Daldry sagt zum Spektakel, das laut The Telegraph mit einem gewaltigen Glockenschlag samt Shakespeare-Zitat beginnen soll: Es zeigt, wer wir sind, wer wir waren und wer wir sein möchten.

Im folgenden Text möchte ich nicht spekulieren, was die beiden Regisseure hervorzaubern werden. Danny Bolye wird dabei die Hauptregie führen, während Daldry die Rolle des ”creative directors” übernommen hat.
Stattdessen möchte ich das bisherige Werk von Stephen Daldry unter die Lupe nehmen und der Frage nachgehen, welches Verständnis von Kunst, von Bewegung und von Politik in ihm zum Ausdruck kommt.

Daldrys Ästhetik
Die Tanz- und Schauspielschulen von Londons bereiten sich seit Monaten auf die Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele vor. Niemand geringerer als der “Vater” von Billy Elliot, der Theater- und Filmregisseur Stephen Daldry, leitet dabei das Training für das Kunstspektakel.
Daldry, letztes Jahr oscarnominiert für seinen Elfter-September-Film „Extrem laut und unglaublich nah“ ist wie besessen von senkrechten Formen. Sie sind für ihn Ausdruck vor allem von Trauer - einem statisch einengenden Stillstellen von Bewegung. Von Lebensfreude.
Im Tanzfilm “Billy Elliot” sind es der herabhängende Punchingball des verhassten Boxstudios samt dessen patriarchalen Gitterstrukturen, bildhaft für den überstrengen Vater, aber auch der Grabstein der Mutter und die Kraftwerkstürme der Arbeitersiedlung, die visuell das Filmbild bestimmen. Im “Elfter-September-Film” natürlich die Türme des World Trade Centers selbst, aber vor allem die stehende Schaukel, die der Protgonist, ein tief trauriges Kind in beiden Filmen, nicht anzurühren wagt.
Die Filme handeln in ihrer gestalterischen Entfaltung davon, wie diese jungen Helden sich von ihrer einengenden Umgebung zu befreien versuchen und dabei zu einem Ausdruck finden, in dem die Wucht der menschlichen Lebenslust und -mühen in ihrer enormen Kraft bemerkbar macht – just indem diese senkrechten Strukturen, diese traurigen Verkrustungen der Umgebung zum Schwingen gebracht werden. Es taucht auf eine Utopie der Schräge, des Vertikalen: Es ist die leichte Schräge, in die Billy den Punchingball schaukelt, als er plötzlich die Balettmusik aus dem Nebenzimmer hört, die viel mehr ausdrückt als bloss ein aus-dem-Lot-kommen. Es ist so etwas wie Glück, Geborgenheit, Abenteuer, ein sich-im-richtigen-Element-Fühlen selbst, das uns im Filmbild anspringt. Später sind es Bilder des schräg abgewinkelten Tanzbeines, des im Fernsehen bewunderten vorbeitanzenden Fred Astaires oder am Ende des letzten Daldryfilmes eben das Schaukeln, das uns die Wucht des Vertikalen vermittelt. Auch sichtbar in den durchgehend vertikal strukturierten Bildern, in denen der Bruder von Billy versucht, der streng vertikal ins Bild gesetzten Polizei zu entkommen, die seine Stimme für die streikenden Arbeiter niederknüppeln will.
Diese gehaltene Schräge ist es, was Daldry fasziniert. Sie ist die Metapher für, oder schlechthin Ausdruck des Lebens selbst, für das seine kleinen Helden kämpfen. Gegenmacht zu den steinernen Vertikalen. Sie ist nur im Durchgang durch mühsame technische Detailarbeit am eigenen Körper zu erreichen. Zwar Ausdruck unbändiger Natürlichkeit, ist sie durch hartes Training “vermittelt”.

Man kann davon ausgehen, dass der Streit zwischen diesen zwei Mächten, der traurigen Senkrechten und der Bewegungsvertikalen auch die Eröffnungsbilder der Olympischen Spiele bestimmen werden. Manchmal, für kurze wichtige Momente in seinen Filmen findet Daldry auch zu so etwas wie einer Synthese: Das erste und das letzte Bild von “Billy Elliot” ist identisch, just in der visuellen Struktur. Im ersten ist es das Kind, das auf seinem Trampolin in die Höhe springt, senkrecht aufrecht im Oberkörper, aber die Beine künstlerisch in die befreiende Vertikale abgewinkelt. Das letzte zeigt den ausgebildeten Tänzer Billy zehn Jahre später im Augenblick, in dem er seinen ersten grossen Auftritt auf der Bühne des Royal Ballet in London hat. Der Schwanensee beginnt und er spingt mit der Wucht des gebildeten Tänzers ab. Das Bild friert: In exakt derselben Kombination von trauriger Senkrechter, aus der der Junge kommt und abgewinkelter Schräger, deren strittige Symbiose nicht nur das Thema dieses Filmes, sondern von Daldrys gesamtem Filmschaffen bisher ausmacht.

Daldrys Geschichte: Kultur und elitäre Einzelkämpfer in einer Klassengesellschaft
Es sind in Daldrys Filmen ausserordentlich talentierte Einzelkämpfer(-innen), die sich aus ihren elterlich strengen gesellschaftlich einengenden, heterosexuell normativen Verhältnissen befreien. Kein Wunder, dass ein solcher Regisseur sich zum olympischen Projekt hingezogen fühlt.
Das Interessante daran ist aber, dass Stephen Daldry selbst zunächst keinen elitären Kunsthintergrund hat in seiner Biographie, sondern von der Zirkuswelt und dem experimentellen Theater kommt. Früh schon hat er dann eine leitende Position im Royal Court Theaters (RCT) in London übernommen (als ”artistic director” von 1992-1998).
Das RCT ist, immer noch merkwürdig unbekannt im deutschsprachigen Raum, das vielleicht wirkungsmächtigste Theater Europas der letzten fünfzig Jahre. Spätestens seit den Siebzigern bewusst als sozialkritisches Zentrum der Theater- und vor allem auch dramatischen Schreibkunst eingerichtet, ist ohne das RCT weder die Baracke des Deutschen Theaters noch die Berliner Schaubühne unter Ostermaier zu denken, also zwei der wichtigsten Brennpunkte des deutschen Gegenwartstheaters. Noch stärker war der Einfluss der Autorinnen und Autoren, die vom RCT regelrecht aufgebaut wurden, von Pinter über Bond bis zu den jungen Wilden, die man in unseren Stadttheatern bewundern kann...

Letztes Jahr feierte das RCT sein fünfzigjähriges Bestehen durch eine Reihe von Publikums-Gesprächen, in denen die wichtigsten Schauspielerinnen, Autoren und Regisseure zurückkuckten - und nach vorn. Am bemerkenswertesten der Auftritt von Bill Gaskill. Gilt er selbst als der grosse Mann des RCT und damit „Mentor“ auch von Daldry, gab er sich verblüffend selbstkritisch. Eigentlich habe das Theater gerade die radikal politische Leistung nicht vollbracht und eingenommen, die er ihm eigentlich zugedacht hatte. Trotz der unfassbaren Erfolgsgeschiche sieht er das Experiment des RCT, vor allem der kleinen Experimentier-Bühne im oberen Stockwerk des Gebäudes für misslungen.
Natürlich haben die Autoren und -innen sozialkritisch die Probleme unserer Gesellschaft belichtet. Wirklich an die Fundamente gingen sie aber nie, weder was unser Verhältnis zur Natur noch zu ausbeuterischen ökonomischen Systemen anbelangt. Auch nicht in ihrer Ästhetik. Theater blieb letztlich Ort der Konsumtion von Kultur.
Wie gestaltet sich Daldrys Werk aus dieser politischen RCT-Perspektive?
Die Geschichten, wie die senkrecht stillgestellten Lebenskräfte aufbrechen und ihren Ausdruck in den vertikal tanzenden Bildern finden, sind zweifellos auch Geschichten von Befreiung. Befreiung aus der engen Arbeitersiedlung oder “Befreiung” von der Trauer über den Tod eines Elternteiles, Versöhnung auch. Aber es ist eben nur die Befreiung des Einzelnen. Zwar wird dieser in einem Familienkontext und auch einem gesellschaftlichen verortet. Aber es geht nie um die Befreiung vom Klassendenken und den unterdrückenden ökonomisch sozialen Strukturen selbst, die letztlich auch für die Trauer in der Familie verantwortlich sind - der Vater des Helden im letzten Daldry-Film stirbt ja in Folge der politischen Terrorattacke; der Vater von Billy ist streng auch wegen seinem unsicheren Arbeitsplatz. Er darf zwar in die teure Oper kommen und seinen Sohn bewundern. Was mit dem für die Arbeiter kämpfenden Bruder wirklich passiert, wissen wir nicht.
Dies macht sich auch bemerkbar an den visuellen Figuren, Strukturen. Das in die Schräge-geraten schlägt nie um in wirkliche Kraft, die sich gegen aussen richten, mitreissen könnte und die Bedingungen verändern, nicht nur die der einzelnen Talente. Sie, die ästhetischen Strukturen, verbleiben psychologisch verkürzt und damit auch die Kunst. Die virtuose Bearbeitung der familiären Trauer durch Kunst ist ein eingeengter Rahmen: So versucht Daldry mit dem Autor Jonathan Safran Foer auch gar nicht, den Anschlag auf das World Trade Center als einen politischen Akt zu sehen.

Krise des Euro als Krise des Marktindividualismus
Daldrys Verständnis von Kultur ist wohl ein elitär individualistisches. Auf dem kompetitiven Markt soll sich der durchsetzen, der es nun mal halt schafft, die grösste Kraft hat. Es ist diese Sicht auf Europa, die Kultur und die Wirtschaft, die so dominant geworden ist, dass es Mühe bereitet, sich überhaupt eine Alternative vorzustellen.
Die Alternative wäre wohl die, wirkliche Demokratie zu wagen: Jeder und jedem die kulturellen Bedingungen zu schaffen, so dass man sich getraut und die Mittel dazu hat, die eigene genuine menschliche Stimme zu artikulieren und in einen wirklichen Austausch zu finden. Miteinander, nicht nur als Leistung für ein Publikum. Und entsprechendes könnte auch für die Demokratisierung der ökonomischen Mittel und Investitionswege gelten. Beides hängt zusammen. Es ist kein Wunder, dass die Regierungen, die am härtesten am marktliberalistischen Europrojekt herumdoktern zugleich am härtesten die allgemeine Kulturbildung streichen, ja sie ideologisch bekämpfen - die es jedem Kind in Europa erlauben sollte, nicht nur talentierte Andere passiv konsumierend zu bewundern, sondern selbst seine Stimme zu entwickeln.
In Limerick in Irland geht die Weltkonferenz der Theater-pädagogen just eine Woche vor der Eröffnung der Olympischen Spiele zu Ende. Sie findet alle drei Jahre statt. Das Resultat ist jetzt schon deutlich: In allen Ländern, vor allem aber in England, streicht die Regierung das Geld für die Ausbildung aller Lehrerinnen und Lehrer in dramatischen Ausdrucksformen. War bisher der Gedanke der, dass jeder Schüler und jede Schülerin sich in seinem Körper und ihrer Stimme auszudrücken lernen sollte, egal mit welchem sozialen Hintergrund, sind es nun nur noch vereinzelte “Begabte”, die an sich und ihren Körpern feilen dürfen. Es sind just diese, die nun von Stephen Daldry für die Eröffnungszeremonie eintrainiert werden.
Daldry hat sich längst von solchen politischen Perspektiven in eine globalisierte Filmwelt von Individualleistungen verabschiedet. Schade eigentlich. Denn wie kaum einer versteht er es, die Wucht von Befreiung ins Bild zu setzen. Es müsste nur die von uns allen sein statt die von denen. Den olympischen Einzelkämpfern.